Stefan Roock

All About Agile and Lean

COVID-19 – das Ende der Selbstorganisation?


Hinweis: Ich benutze die aktuelle Situation als Perspektive auf Selbstorganisation, um mehr Klarheit in das Konzept der Selbstorganisation zu bringen. Mir fehlt das Fachwissen, um darüber zu befinden, wie wir sinnvoll mit der Pandemie umgehen sollten.

Um die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen, haben viele Regierungen die Handlungsspielräume der Bevölkerung massiv eingeschränkt. Ist damit Selbstorganisation abgeschafft? Funktioniert Selbstorganisation nur bei Schönwetter und versagt, wenn es hart auf hart kommt?

Selbstorganisation bei Tieren

Beginnen wir mit dem Konzept der Selbstorganisation. Ein plastisches Beispiel für Selbstorganisation findet sich bei Fisch/ und Vogelschwärmen: Es gibt niemanden, der Ansagen für alle macht. Stattdessen sorgt ein einfacher Regelsatz dafür, dass der ganze Schwarm sinnvoll funktioniert (siehe https://de.m.wikipedia.org/wiki/Schwarmverhalten):

  1. Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst (Kohäsion).
  2. Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt (Separation).
  3. Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn (Alignment).

Zugvögel bilden V-Formationen, die durch die o.g. Regel nicht entsteht. Dazu sind andere Regeln notwendig:

  1. Nutze den Auftrieb, den der Flügelschlag eines vor dir fliegenden Vogels verursacht.
  2. Nimm dabei eine Position ein, von der aus du ungestört nach vorn blicken kannst.

Mit diesen Regeln entsteht die Formation, auch wenn die Vögel unkoordiniert starten.

Dadurch, dass die Individuen sich an die einfachen Regeln der Selbstorganisation halten, entstehen im Schwarm komplexe Verhaltensmuster. Dazu ist es nicht mal notwendig, dass die einzelnen Individuen das entstehende Muster als eigenes Ziel haben.

Selbstorganisation in der Gesellschaft

Unsere Gesellschaft inkl. des Wirtschaftssystems ist selbstorganisiert. Dabei organisiert sich jede Gesellschaft selbst – auch in Diktaturen. Der Unterschied besteht in der Enge bzw. Weite und der Verlässlichkeit des vorgegebenen Rahmens.

Die Gesetze definieren in den Rahmen, in dem sich Selbstorganisation entfaltet. Die Gesellschaft als solches verfolgt mit der Selbstorganisation kein gemeinsames Ziel – man kann argumentieren, dass die Aufgabe des Wirtschaftssystems die Vermehrung des Wohlstands der Gesellschaft ist. Allerdings ist das sicher kein Ziel, dass von allen Unternehmen aktiv verfolgt wird. Wie beim Schwarmverhalten der Vögel ist es auch nicht unbedingt notwendig, dass die einzelnen handelnden Akteure dieses Ziel verfolgen.

Und trotz dieser ganzen Ähnlichkeiten existieren relevante Unterschiede zwischen Menschen und Fischen oder Vögeln. Nach allem, was wir über Vögel und Fische wissen, können wir davon ausgehen, dass wir bewusstere Entscheidungen treffen, über die Vergangenheit reflektieren und Pläne für die Zukunft machen können. Daher können wir Menschen uns mit unschärferen Regeln als die Vögel selbst organisieren. Und daher funktioniert unsere Selbstorganisation auch meistens dann noch, wenn Einzelne sich nicht an die Regeln halten. Die anderen können darüber nachdenken, was die Abweichungen bedeuten und sinnvolle Schlussfolgerungen für ihr eigenes Handeln ableiten.

Beschränkung der Selbstorganisation in der aktuellen Krise

In der aktuelle Pandemie versuchen die Regierungen, die Gesellschaften auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören: „Flatten the curve“. Das Ziel besteht darin, die Kurve der Infektionen soweit abzuflachen, dass die Gesundheitssysteme nicht kollabieren. Im Großen und Ganzen scheint dieses Ziel auch akzeptiert zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Regierungen Maßnahmen definiert, die je Land unterschiedlich, in Europa aber doch sehr ähnlich sind. Diese Maßnahmen bringen erhebliche Einschränkungen der Handlungsfreiheit der Einzelnen mit sich. Dass sie trotzdem im Wesentlichen akzeptiert und befolgt werden, dürfte mit der Akzeptanz der höheren Ziels „flatten the curve“ zusammenhängen.

Die beschlossenen Maßnahmen der Regierungen bestehen aus klaren, strikten Vorgaben. Diese Vorgaben definieren vor allem, was man alles nicht mehr tun darf. Sie unterscheiden sich damit von den Regelsätzen, die z.B. Schwarmverhalten erzeugen. Die Vorgaben sind nicht besonders gut dafür geeignet, neue und überraschende Handlungsmuster zu erzeugen. Und das ist vermutlich auch nicht beabsichtigt. Es geht im Moment nicht darum, innovative Lösungen für ein komplexes Problem zu finden. Es geht darum, durch einheitliches Handeln (oder besser Nicht-Handeln) eine Katastrophe für das Gesundheitssystem zu vermeiden.

Selbstorganisation existiert trotzdem

Allerdings ist damit Selbstorganisation keineswegs abgeschafft. Die Menschen und Unternehmen passen sich selbstständig im Rahmen der Vorgaben an. Restaurants mussten schließen und bieten Lieferdienste an. Unternehmen, die zur Zeit wenig zu tun haben, leihen Mitarbeiter an Unternehmen aus, die zur Zeit Personalengpässe haben. Die Menschen finden alternative Wege, um in Kontakt zu bleiben; meine achtjährige Tochter macht beispielsweise wöchentlich eine Videokonferenz mit ihren Freundinnen.

Warum nicht mehr Selbstorganisation in der Bevölkerung?

Selbstorganisation kann schneller bessere Lösungen für anspruchsvolle Probleme liefern als Fremdbestimmung. Dafür sind allerdings Voraussetzungen notwendig, die sich im Moment nicht vollständig herstellen lassen. Das erste Problem ist die fehlende Transparenz.

Aus den o.g. Beispielen für Schwarmverhalten lässt sich gut erkennen, dass die einzelnen Akteure ihr Umfeld kontinuierlich wahrnehmen müssen. So können sich die Verhaltensweisen der einzelnen Akteure gegenseitig so beeinflussen, dass am Ende des Gesamtergebnis entsteht.

Und genau an der Transparenz hapert es bei der COVID-19-Pandemie ganz erheblich. Bei vielen Infizierten treten keine oder kaum Symptome auf und trotzdem können sie andere Personen infizieren. Eine Regel wie „meide Kontakt zu Infizierten und isoliere dich selbst, wenn du infizierst bist“ funktioniert also leider nicht.

Stattdessen kennen wir nur die Anzahl der infizierten Personen (und das auch nur ungefähr) und viel schlimmer: Da Infizierte nicht sofort Symptome entwickeln, hinken die Statistiken 10-14 Tage hinterher. Man kann also nicht am Montag ein neues Verhalten ausprobieren, Dienstag morgen die Änderung der Infektionsrate ansehen und dann ggfs. etwas Anderes ausprobieren. Die Feedback-Zyklen sind zu lang, um die Gesellschaft selbstorganisiert das passende Verhalten herauszufinden zu lassen.

Das zweite Problem ist die Interpretation der Daten. Wenn Fallzahlen steigen oder sinken, kann das sehr unterschiedliche Ursachen haben (und z.B. mit der Menge der verfügbaren Tests oder geänderten Arbeitsweisen der Labore zusammenhängen). Wir Nicht-Experten können also nicht mal besonders gute Schlussfolgerungen aus den Daten ziehen. Selbst wenn es die Verzögerung bei den Fallzahlen nicht gäbe, wären viele der selbstorganisierten Entscheidungen vermutlich nicht besonders schlau.

Selbstorganisation zur Bekämpfung der Pandemie

Es gibt bereits viele selbstorganisierte Initiativen, um mit der Pandemie umzugehen. Die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen findet in Unternehmen und Forschungsinstituten statt – ohne Command&Control durch die Regierung.

Und wenn wir es schaffen würden, mehr Transparenz und kürzere Feedback-Zyklen zu schaffen, kann die Gesellschaft selbstorganisierter dazu beitragen das passende Verhalten zu (er)finden. Die verschiedenen diskutieren Apps (z.B. zum Kontakt-Tracking) könnten dazu einen Beitrag leisten.

Und in Unternehmen?

Die Frage nach dem richtigen Maß an Selbstorganisation stellt sich auch in vielen Unternehmen. Im Moment ist die Zeit der Krisenstäbe und Krisenmanager. Aber bedeutet das, dass Selbstorganisation in den Unternehmen gescheitert ist? Dazu werde ich in den nächsten Tagen einen eigenen Blogpost veröffentlichen.

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